Jetzt lebt er seit einigen Tagen allein in der großen Kiste. Seine zuletzt verbliebene Freundin hat nun auch ihren Weg ins Regenbogenland angetreten.
Mauseallein.
Elend sieht er aus. Das dünne Fell bedeckt einen Bauch, der sich wie eine Kugel an beiden Körperseiten vorwölbt. Langsam und mühsam bewegt er sich vorwärts, immer wieder innehaltend und sichtbar schwer atmend. Möglicherweise macht eine Herzschwäche der Maus zu schaffen.
Ich betrachte die Maus lange und gebe ihr nicht mehr viele Tage. Eine Vergesellschaftung mit neuen Mäusen wird diese alte und kranke Maus wohl nicht mehr überstehen.
Aber die Gabe eines entwässernden Medikaments, um das Herz zu entlasten, will ich doch noch versuchen. Mit Kokosmilch vermischt nimmt er das Mittel nach einer Weile, aus der schützenden Deckung heraus, tatsächlich an.
Munin mit der greisen Papillon.
Über die nächsten Tage reduziert sich der Bauchumfang etwas und die Maus scheint auch wieder leichter atmen zu können. Besonders bemerkenswert aber kommt mir vor, wie die alte Maus nun in wenigen Tagen ihr lebenslang eingeübtes Verhalten vollkommen ändert. Diese scheueste aller meiner Mäuse bewegt sich nun allabendlich freiwillig in meine Nähe, um sich die Medikamente und kalorienreichen Pasten aus der Spritze abzuholen. Dabei benimmt sich der alte Mäuserich zunehmend zutraulicher und läuft abends lange, ohne Deckung zu suchen, in meiner unmittelbaren Umgebung herum.
Was tun?
Es ist nur ein kurzer Moment, ein plötzlicher Gedanke, als gerade drei der neuen Mäuse in meinem Pulloverärmel zu ihrer abendlichen Begegnungen zusammentreffen und der alte Munin in der Mäusekiste aus seiner einsamen Versenkung auftaucht. Die Kleine mit dem Stummelschwänzchen steckt gerade ihr Köpfchen aus dem Pulloverärmel heraus – da halte ich aus einem plötzlichen Impuls heraus den Ärmel vorsichtig über die Rinde, auf der Munin seinen Beobachtungsplatz eingenommen hat. Besorgt, daß die junge Maus den Ärmel nicht unbeabsichtigt verlassen möge, schwebt die jugendliche Mäusenase etwas über dem schwarzen Fell des alten Mäuserichs. Die junge Maus macht den Hals lang und länger, bis sie das Gesicht des fremden Artgenossen berührt. Bewegungslos verharrend, schließt Munin die Augen und schiebt seine Schnauze der kleinen Maus entgegen. Fast eine Minute lang berühren sich die Mäusenasen immer wieder und Munin – man würde ihm nach menschlichem Ermessen eine tiefgehende Sehnsucht, eine so schmerzliche Sehnsucht nach dem Anderen, dem Mitlebewesen an Gesicht und Haltung ablesen wollen. Schließlich kann ich die junge Maus nicht mehr im Ärmel halten und muß die Begegnung abbrechen, tief betroffen und einigermaßen erschüttert von dem, was sich vor meinen Augen gerade abgespielt hat.
Munin mit einer Extralieferung Mehlwürmer - direkt vor die Schnauze.
Ob es nicht doch eine Chance gibt, den alten Munin mit in die Vergesellschaftung aufzunehmen, ob es diese Chance im Grunde nicht geben muß?
Aber die kranke Maus dafür einfangen zu wollen, kommt mir in seinem Zustand als des Schlechten zu viel vor.
Am folgenden Abend wiederholt sich die Situation. Die Mäuse in meinem Ärmel, Munin, der wie von Geisterhand hervorgezaubert auf der großen Rinde in der Mäusekiste erscheint. Wieder halte ich die junge Maus, im Ärmel über ihm schwebend, vorsichtig dem alten Mäuserich hin und sehe wie Mäusenasen sich sehnsuchtsvoll berühren.
Diesmal aber locke ich die alte Maus solange mit der Ärmelmaus in meine Richtung, bis er sich auf eine mobile Rinde wagt, die ich nun langsam anhebe, um den Mäuserich dann auf dem Pullover in meinem Schoß vorsichtig wieder abzusetzen. Der Ärmel mit den jungen Mäusen senkt sich nun ebenfalls auf den Wollpullover im Schoß und die junge Mausedame schlüpft langsam aus der Ärmelöffnung, gefolgt von zwei ebenfalls blutjungen Kasträtchen, die sich zum Zwecke des Kennenlernens ebenfalls dort aufgehalten haben.
Was macht Munin? Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie diese alte Maus sich ganz flach und so tief wie möglich in das Wollgewebe drückt. Die anderen Mäuse nähern sich vorsichtig, um lange und wiederholt an dem Alten zu riechen, der das absolut bewegungslos über sich ergehen läßt. Nicht eine einzige, nicht eine winzige Bewegung läßt erahnen, daß die Maus dort noch am Leben ist. Doch niemand greift den Alten an. Keine Drohgebärde ist erkennbar, keine Spannung baut sich auf, alle Bewegungen der Mäuse wirken vorsichtig friedlich. Schließlich setze ich Munin wieder an dem Kistenrand seines einsamen Mäuseheims ab.
Ich bin zutiefst beeindruckt. Munin, die alte Maus muß Angst verspürt haben, alles andere wäre schwer vorstellbar. Doch, anders als die jungen Mäuse, schafft es dieser alte Mäuserich, seiner Angst keinen Ausdruck zu geben. Kein Zittern, kein Zurückzucken, keine Versuche aus der Situation zu entfliehen. Aber damit macht diese Maus im Grunde alles richtig oder anders ausgedrückt – sie vermeidet alle „Fehler“, die bei der Begegnung unter Mäusen auftreten können. Jede schnelle Bewegung fremder Mäuse, die einander begegnen, kann potentiell als Bedrohung oder als drohender Angriff fehlinterpretiert werden und damit eine Auseinandersetzung auslösen, der diese alte Maus mit Sicherheit gar nicht mehr gewachsen wäre. Das scheint der Mäuserich offenbar aber zu „wissen“. Vielleicht hilft ihm die lebenslange Erfahrung im Umgang mit anderen Mäusen dabei, sich nun, da er alt und krank ist, so „weise“ zu verhalten.
Bei einem weiteren Versuch am nächsten Tage, bewegt sich Munin, nachdem er von den jungen Mäusen beschnuppert worden ist, tatsächlich im Zeitlupentempo in den Ärmel hinein, hin zu den Mitmäusen, die er nun schon ein wenig kennen gelernt hat. Das Erstaunlichste dabei ist, daß ich Munin kurz vorher auf der am Boden liegenden „Mäusejacke“ wartend vorgefunden habe und ihn gemeinsam mit der Jacke nur hochheben mußte, um einen neuen Begegnungsversuch zu starten.
Die alte Maus saß auf der Jacke und wartete!
Diese Weihnachtsgeschichte wird einen kurzen, guten Ausgang nehmen. Vor zwei Tagen habe ich Jorinde, die Mäuseoma, mit ihren drei jungen Mädels und zwei der jungen Kasträtchen zusammengesetzt, gestern stießen zwei weitere junge Kasträtchen dazu. Die letzten beiden werden heute am Weihnachtsabend folgen.
Das „Weihnachtswunder“: Munin auf einem Wollfetzen neben Joringel und den jungen Mäusen.
Munin war von Anfang an dabei. Dicht an den Untergrund gedrückt, ist er seiner erfolgreichen Strategie der Bewegungslosigkeit treu geblieben. Nachdem alle Mäuse auf diese Weise Gelegenheit hatten, ihn ohne Angst ausgiebig zu beschnüffeln, fing er an, sich im Zeitlupentempo zu einer der Mäusegruppen vorzuschieben und hat sich dazu gelegt. Fast nicht erkennbar nimmt er den Geruch der neuen Mäuse in seine Nase auf, berührt hier eine Maus sanft an ihrer Schnauze und setzt sich dort dicht neben eine andere. Gemeinsam mit seinen neuen Mitmäusen treffe ich ihn abends bei der Verteilung von Leckereien an und bei dieser Gelegenheit bekommt er auch seine Medikamente.
Munin, neben Joringel, wird von dem jungen Kasträtchen freundlich beschnüffelt.
Vielleicht wird Munin das neue Jahr nicht mehr erleben. Aber er wird seine letzten Tage in Gemeinschaft mit Mäusen verbringen und – er sieht glücklich und zufrieden dabei aus.
Du hast es Dir verdient, mein Freund.
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