Toulouse

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31.07.2007: Für einen Mäuserich, der in Kürze kastriert werden würde, suchte ich nach Weibchen und ging daher ins Tierheim Berlin. Statt mit Mäusemädchen kam ich mit einem weiteren Einzelböckchen nach Hause.
Er saß wohl schon eine Weile im Tierheim Berlin. Als ich ihn zum ersten Mal sah, war ich erleichtert, daß die Kleintierpfleger genauso wenig Ahnung von Farbschlägen hatten wie ich. Denn hätten sie auf sein Vermittlungszettelchen geschrieben, daß hier eine, wie mensch es sich phantasievoll erdacht hat, "Siamese Seal Point-Farbmaus in Satin mit Rosettenfell" säße, wäre dieses Einzelböcken vermutlich sehr schnell weggewesen. Und wieder an die Falschen geraten.
Ich hatte nie zuvor eine Maus mit Rosettenfell gesehen. Etwas zu dünn war er und ein bißchen lethargisch, Alter unbekannt. Seine Vergangenheit ließ sich nur lückenhaft rekonstruieren. Rosettenmäuse werden nicht so oft gezüchtet. Einiges erfuhr ich, anderes erzählte er mir – indirekt, durch sein Verhalten. Er war mutmaßlich lebenslang Einzelmaus gewesen. Er war extrem nervös. Er hatte panische Angst vor Menschen, und zugleich reagierte er ungewöhnlich aggressiv auf Bedrängnis. Ich nannte ihn Toulouse.
Am Bauch, direkt an der Peniswurzel, hatte er ein etwa centstückgroßes Atherom, eine Talgansammlung. Aus Langeweile – im winzigen Hamsterknast im Tierheim gab es wenig zu tun – hatte er es sich aufgeknabbert, es war entzündet.
Ich rief meine Tierärztin an und kündigte an, statt des verabredeten einen Böckchen zwei zur Kastration zu bringen. Das war kein Problem. Dawidh und Toulouse wurden problemlos kastriert. Als die Kastrationsquarantäne vorüber war, wurden beide vergesellschaftet. Dawidh bekam Babyböckchen, die später kastriert wurden, Toulouse Mädchen.

Jetzt begriff ich, daß er wahrhaftig seit sehr langer Zeit keine andere Maus zu Gesicht bekommen hatte. Er kannte nur Aggression. Andere Mäuse verstörten ihn. Er war überfordert. Im Kreis rannte er um Suzanne herum, immer wieder drohend mit dem Schwanz trommelnd, traute sich nicht näher und traute sich doch nicht, ihr den Rücken zuzuwenden, denn er rechnete mit einem Angriff. Schnuppern konnte er nicht – er riskierte keinen Körperkontakt. Suzanne saß erstarrt reglos da und wartete ab. Er griff sie an, ich war kurz davor, die Vergesellschaftung abzubrechen. Sie wehrte sich nicht. Nach und nach schien er zu verstehen, daß die fremde Maus ihm nichts zuleide tun würde.
Sie schliefen getrennt. Er hatte sein ganzes Leben allein im Nest schlafen müssen. Er war noch nicht soweit.
Nach einigen Tagen nahm sie die Sache in die Pfoten. Sie zog kurzerhand bei ihm ein. Er zog aus. Sie hinterher. Er zog wieder weg. Sie hinterher.
Ihre Hartnäckigkeit hatte Erfolg. Als ich das erste Mal beobachtete, wie er ganz vorsichtig den Kopf vor ihr senkte und sie zum Putzen aufforderte, und wie er die Augen schloß, als sie putzen durfte, war ich mindestens so glücklich wie er in diesem Moment.

Er war ein Spinner. Überdreht, leicht reizbar, scheu und gleichzeitig selbstbewußt. Menschen sollten ihm bitte schön nie wieder zu nahe kommen. Seine Grenze zeigte er deutlich mit den Zähnen an, ich mußte aufpassen, wenn ich ins Gehege griff, um den Wassernapf herauszunehmen oder täglich das Grünfutter zu ersetzen. Das entzündete Atherom war längst abgeheilt. Er wußte genau, zu welcher Uhrzeit ich ins Zimmer kam, um zu füttern. Aus meinen Fingern entriß er blitzschnell ein Stück Backoblate, und nichts wie weg. Wahrscheinlich hatte er früher als lebendiges Spielzeug herhalten müssen und war gegen seinen Willen herausgefangen worden. Als Kasper-Hauser-Maus, die sehr früh von der Mutter getrennt und danach einzeln gehalten wurde, dauerte es, bis er alltägliches Mausverhalten mit Artgenossen entwickelte. Er liebte Gurke. Er verbrachte Nächte damit, Apfelbaumäste zu entrinden, trug die Rindenstücke ein Stockwerk höher und stopfte sie in den Wassernapf. Er war überaus intelligent, wie ich immer wieder feststellen durfte. Er schien zu begreifen, daß ich den Wassernapf täglich herausnahm, auswusch und wieder hereinstellte, denn er ertränkte nicht nur Salat, wie andere Mäuse es gelegentlich tun, sondern benutzte den Wassernapf als Abfalleimer. Besseres Futter, Proteine und eine Entmilbung bei der Ankunft zauberten einen wunderbaren Glanz zurück in sein Fell. Ja, er war wunderschön. Aber darauf kam es nicht an. Er hatte bisher immer etwas sein müssen, das die Menschen ihm aufzwangen: dekorativ; exklusiv; anfaßbar. Bei mir sollte er nichts sein müssen, aber alles sein dürfen. Also war er einfach Toulouse. Ein Mäuserich, vor dem ich Besucher warnte, nicht die Finger ans Gitter zu halten, denn er biß wirklich zu, ein sehr, sehr sensibler Mäuserich, der bei Artgenossen Lebenszeit nachholen sollte.

Ich weiß nicht, welchen Tod ich mir für ihn gewünscht hätte. Wünscht man nicht jeder Maus einen friedlichen Altersschwächetod nach einem langen zufriedenstellenden Leben? Ich wußte ja nicht, wie alt er überhaupt war. Ich befürchtete, daß er ziemlich verzüchtet wäre, insgeheim rechnete ich damit, daß er irgendwann einen Tumor bekäme. Aber er bekam keinen Tumor, statt dessen bekam er Herzbeschwerden. Dagegen war ich machtlos. Ich versprach ihm, ihn nicht leiden zu lassen. Würde er Atemnot bekommen, würde ich ihn nicht ersticken lassen, ich würde ihn gehenlassen. Am Abend saß er auf einer Korkplatte und schaute mich an mit diesem für ihn typischen Blick, aufmerksam, ein wenig wachsam immer, zugleich leise erstaunt.
Am nächsten Tag fand ich ihn, er lag in einer Ecke des Geheges, den Schwanz um sich gelegt, ein Stück Backoblate noch neben ihm. Ich hoffe, er ist rasch und ohne Furcht gegangen, und sein krankes Herz ist einfach stehengeblieben.

Alle Mäuse sind etwas Besonderes, etwas Einmaliges, so wie jedes Lebewesen besonders und einmalig ist. Toulouse wird mir dennoch vielleicht besonders tief im Herzen bleiben. Nicht weil er zahm gewesen wäre – er war es nicht. Nicht weil er unkompliziert gewesen wäre – er war überaus kompliziert. Sondern weil er war, wie er war. Er war 10 Monate bei mir. Ich habe das Gefühl, es sei zu wenig Zeit gewesen. Aber vielleicht war es für ihn gerade richtig.

Lieber Toulouse, ich hoffe, du warst glücklich. Nun schlaf schön.
Du bleibst in meinem Herzen.

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eadeenay

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*seufz* so schön geschrieben.

machs gut kleiner toulouse. :cry:
da wo du jetzt bist sind keine menschen, nur mäusefreunde

vindo....*knuddel*
 

Knuspel

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Ach, das hast du schön gesagt....
Machs gut, kleiner Toulouse auf der Regenbogenbrücke......Grüß mir Elsie, Rosalie, Knut und die anderen....*heul**knuddel*
 

GabyH.

bemerkensewert
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Vindo: *knuddel**knuddel*
Machs gut kleiner Mäuserich, Du hattest das beste Mäuseleben, das sich eine Maus nur wünschen konnte.
Komm gut drüben an, grüß alle lieb. *Abschied*
 
S

Scotchbride

Guest
Herrjeh....Toulouses Geschichte ist so herzzerreißend geschrieben, mir stehen die Tränchen in den Augen...:cry:

Mach`s gut kleiner Mäuserich...*Abschied*

Schön daß du noch eine so tolle Zeit jenseits der Tierheim-Pforten erleben durftest und deinen außergewöhnlichen Charakterkopf nicht hast hängen lassen...daß du merken konntest daß es Menschen und Mäuse gibt die es nicht böse mit dir meinten...

Gute Reise und viel Spaß im Regenbogenland !
 

Bat

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Jetzt sitze ich hier bei sommerlichen Temperaturen und habe Gänsehaut:cry::cry::cry:
 

stefanie

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....... schnief .....

*knuddel*

jaja, bei den Problemmäusen steckt dann immer noch extra Herzblut drin... und liebt man sie doppelt fürs halbwegs-normal- werden ......
 
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